Artikel und Texte: …denn es fühlt wie du den Schmerz
…denn es fühlt wie du den Schmerz
Erlebt und aufgeschrieben von Beate Rost (2010)

Es war in der Nacht vom 2. Februar 2010, als meine Nachbarin mich mit folgenden Worten aus dem Bett klingelte: „Ein Fuchs liegt draußen auf der Straße! Er liegt einfach da und rührt sich nicht.“ „Ich komme!“, antwortete ich schlaftrunken und nur wenige Minuten später lief ich mit offenen Schnürsenkeln und nur mit Schlafanzug und Jacke bekleidet durch einen heftigen Schneesturm die Straße hinunter.
Und da lag er dann, mitten im Schnee, in der Fahrrille des Autos, dessen Fahrer ihn irgendwann im Laufe des Abends angefahren und schwer verletzt liegen gelassen haben musste. Ein paar Meter hinter ihm standen meine Nachbarin und ihre Tochter, die ihn gefunden hatte, als sie wenige Minuten zuvor vom Dienst nach Hause gekommen war.
Der junge Fuchs war circa acht bis neun Monate alt. Sein kleiner Brustkorb hob und senkte sich extrem schnell. Sein Kreislauf schien nicht mehr sehr stabil zu sein. Seine Augen waren kaum geöffnet. Gelbbraunes Blut tropfte aus seiner Nase. Ich ahnte, dass ich sein Leben nicht retten konnte. Aber ich sah auch, wie sehr er an seinem Dasein hing. Er versuchte sich immer wieder mit letzter Kraft, aufzurichten. Er zog sich auf die Vorderläufe, wimmerte leise, streckte seinen Hals und stemmte sich hoch. Aber er schaffte es nicht. Er kippte jedes Mal zur Seite und jeder weitere Versuch ließ ihn kraftloser in den tiefen Schnee sinken. Bis er schließlich aufgab und sich seinem Schicksal unterwarf. Ich war mir ziemlich sicher, dass sein Rückgrat gebrochen sein musste. Die Tochter meiner Nachbarin fragte traurig, ob es sinnvoll wäre, ihm Futter anzubieten. Es könne doch sein, dass der Winter ihm seine Kraft genommen habe. Ich nickte und antwortete ihr, dass das schon möglich sei, ich aber in diesem Fall nicht daran glaube. Konzentriert dachte ich indes darüber nach, was ich nun tun sollte. Vor mir lag ein junger Fuchs, der im Laufe der Nacht vermutlich auch ohne menschliche Hilfe sterben würde. Aber wie lange durfte ich ihm die Qual und den Schmerz und die Todesangst, die er ausstand, zumuten? Er lag mitten auf der Straße. Wir mussten verhindern, dass das nächste Auto, das um die Ecke bog, ihn noch einmal überrollte. Ich musste handeln, und zwar schnell, eine andere Möglichkeit blieb nicht.
Ich hatte vor langer Zeit an einem Seminar teilgenommen, in dem man mich lehrte, niemals ein gefundenes oder verletztes Wildtier einfach mitzunehmen. Es wäre der Tatbestand des Wilddiebstahls, hieß es. Außerdem seien Wildtiere kein Allgemeingut, obwohl sie ja im Grunde niemandem gehören und sozusagen herrenlos seien. Verletzte Wildtiere gehörten, insofern sie dem Jagdgesetz unterlägen, dem Jagdausübungsberechtigen des jeweiligen Reviers! Aber es hieß auch, dass man einem Tier, das offensichtlich schwer verletzt ist, auf keinem Fall tierärztliche Hilfe verwehren sollte? Unser Professor hatte währenddessen er das sagte die Brille abgenommen, und leise bemerkt, dass es immer einen Weg gäbe, den Jäger zu umgehen. Vielleicht nicht ganz legal, aber meistens so gut wie. Und betont hatte er dann hinzugefügt: „Es ist eben ein Tanz auf dem Drahtseil, diese Suche nach einer eigenen Lösung. Aber ihr müsst sie finden. Überlasst diese Lösung niemals einem Jäger. Egal wo ihr seid. Er wird das Tier brutal erschießen, auch wenn es nicht schwer verletzt ist. Und denkt immer daran, grundsätzlich ist das Ziel jeder Rettungsaktion, das Überleben des Tieres zu sichern und es, nach entsprechender Behandlung, wieder in die freie Natur zu entlassen! Entscheiden könnt nur ihr. Denn nur ihr werdet die jeweilige Situation beurteilen können. Nur ihr seid vor Ort.“
Obgleich ich in den letzten Jahren diesbezüglich hier in Berlin gottlob keine Erfahrungen machen musste, war ich mir doch sicher, dass dieser junge Fuchsrüde keine Chance auf Rettung hatte und mit gebrochenem Rückgrat vor mir lag. Aber ich wollte nicht in letzter Instanz über Leben und Tod entscheiden. Ich musste also diesen Tanz auf dem Drahtseil wagen.
Ich rief sämtliche „Fuchskontakte“ an, die ich hatte. Natürlich erreichte ich niemanden. Es war mitten in der Nacht und jeder Anruf mündete bestenfalls auf einer Mail-Box. Ich hinterließ überall mein Hilfegesuch und hoffte inständig darauf, dass irgendjemand wach wurde und zurückrief. Leider wurde ich eines Besseren belehrt. Zumindest in dieser Nacht.
Schließlich informierte ich die Polizei über die Situation. Ich gab den Fundort durch und erfuhr, dass man mir umgehend zwei Beamte schicken würde, die sich dann auch schnellstmöglich um den Stadtjäger kümmern würden.
Ich hatte nichts anderes erwartet, und genau das galt es jetzt zu verhindern. Hier begann also nun mein Tanz auf dem Drahtseil. Den legalen Teil hatte ich abgeschlossen. Auf keinen Fall aber wollte ich zulassen, dass dieses junge Leben, von einer Ladung Schrot ausgelöscht würde. Wenn es nun schon nicht mehr zu retten war, dann sollte es wenigstens in Würde gehen dürfen.
Ich musste also einen Tierarzt finden, der bereit wäre, mir zu helfen. Ich lief nach Hause und rief wie selbstverständlich die Tierambulanz an. Ich schilderte kurz und knapp den Zusammenhang und bat darum, mir umgehend einen Tierarzt zu schicken. Fassungslos nahm ich die Antwort entgegen. „Das tut mir leid, bei einem Fuchs können wir nichts machen. Wenn Sie einen Hund gefunden hätten, würden wir sofort kommen. Bei Wildtieren dürfen wir das nicht. Sie sollten die Polizei informieren! Sie machen sich sonst strafbar.“ Ich machte die Dame in der Telefonzentrale der Ambulanz noch einmal darauf aufmerksam, dass da draußen ein leidendes Tier liegt, das Hilfe braucht, und dass es doch wohl egal sei, zu welcher Spezies es gehöre. Aber sie ließ sich nicht umstimmen. Also legte ich auf und wählte die nächste Nummer. Wieder erklärte, schilderte und hoffte ich. Und wieder bekam ich eine ähnliche Antwort: „ Bei Wildtieren“, gab man mir kurz und bündig zu verstehen, sind wir nicht zuständig! Sie müssen die Polizei alarmieren.“
Nachdem ich zwei weitere Nummern für nächtliche Notfälle angewählt hatte, und ich mit gleichem Tenor zurückgewiesen worden war, war meine letzte Hoffnung eine befreundete Tierärztin. Sie würde mir sicher nicht absagen. Sie wüsste, wie sehr mein Herz an den Füchsen hängt. Ich rief sie an und erklärte ihr schon fast mit Tränen in den Augen, dass ich dringend Hilfe für einen schwerverletzten Fuchs brauche. Wenige Augenblicke später nahm ich auch ihre Antwort enttäuscht entgegen: „Nein, Beate, du musst die Polizei benachrichtigen. Ich darf da leider nichts tun!“
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich war völlig schockiert. Sprach ich plötzlich eine fremde Sprache oder wieso verstand da draußen niemand, dass ein leidendes, schwer verletztes Tier Hilfe brauchte. Ich hatte mehr als ein halbes Dutzend Absagen von Tierärzten bekommen, die sich verweigerten, einem Leben zu helfen, nur weil es das Pech hatte, laut irgendeinem unsinnigen Gesetz zu einer Art zu gehören, die unter das Jagdgesetz fällt und somit der Verantwortung des Stadtjägers unterliegt. Ich konnte es einfach nicht glauben.
Inzwischen war ich wieder zurück gelaufen zur Unfallstelle. Meine Nachbarin und ihre Tochter standen noch immer tapfer, durchgefroren und klitschnass in dem nächtlichen Schneesturm und achteten darauf, dass kein weiteres Auto in die enge, eingeschneite Straße abbog.
Der junge Fuchsrüde lag mittlerweile unter einer dünnen weißen Schneeschicht. Er atmete nun wesentlich ruhiger und seine Augen waren fest geschlossen.
Wie gern hätte ich ihn aus diesem eisigen Schnee genommen, ihn auf eine weiche und trockene Decke gelegt, ihn gestreichelt und ihm meine Liebe gezeigt, die ich seit meiner Kindheit für seine Spezies empfinde. Aber das alles hätte er nicht gewollt. Es hätte Todesangst in ihm ausgelöst und vermutlich hätte er auch mit letzter Kraft um sich gebissen.
Ich spürte, wie sich die erste Träne an meiner Wange ihren Weg bahnte. Ich weiß nicht, ob aus Verzweiflung, Hilflosigkeit oder aus Enttäuschung.
In der Ferne hörte ich das leise, raue Bellen eines anderen Fuchses. Ich redete mir ein, dass diese traurige Stimme nach diesem kleinen, sterbenden Kerlchen rief. Ich ging ein paar Schritt um ihn herum, um sein Gesicht zu sehen. Ich konnte erkennen, dass jeder Fuchslaut, der aus der Dunkelheit kam, ein leichtes Zucken seiner Augenlider auslöste. Er kannte die Stimme. Da war ich mir sicher. Aber er konnte ihr nicht mehr antworten.
Unauffällig wischte ich meine Tränen fort. Ich wollte nicht, dass meine Nachbarn mich weinen sehen. Ich ging einige Schritte zur Seite, und sah in die Dunkelheit. Hinter einem dichten Lattenzaun versteckt, sah ich einen weiteren Fuchs. Es war die Füchsin aus unserem Garten. Ich erkannte sie an ihrem verletzten Schwanz. Wahrscheinlich war sie die ganze Zeit über in unserer Nähe gewesen. Ganz still stand sie da, und der Blick ihrer weit geöffneten Augen traf wie ein gezieltes Messer mitten in mein Herz.
In diesem Moment klingelte mein Handy. Es war der Rückruf eines Tierarztes, der wenige Minuten zuvor meinen Notruf erhalten hatte. Wir waren einmal befreundet, hatten uns aber in den letzten Jahren aus den Augen verloren.
Ich erklärte ihm ohne Umschweife meine Situation und er sagte umgehend und ohne lange über irgendwelche Gesetze nachzudenken: „Ich bin in 30 Minuten da!“
Im gleichen Moment bog der Streifenwagen in die Straße ein. Ich erfuhr sogleich von den beiden Beamten, dass sie in diesem Fall nicht den Stadtjäger holen würden, sondern selbst schießen müssten. Allerdings sei das Schießen auf harten Böden nicht erlaubt, sie müssten den Fuchs auf weichen Untergrund legen. Außerdem wüssten sie beide nicht, ob sie ihn mit einem einzigen Schuss erlegen könnten. Ein Kopfschuss sei verboten, und das Herz zu treffen, sei immer so eine Sache.
Mir wurde in diesem Augenblick ganz schwindelig. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Da sollte dieser schwerverletzte Fuchs, den ich nun die ganze Zeit über in Eis und Schnee liegen gelassen hatte, um ihm zumindest die Todesangst und die Panik vor der unmittelbaren, menschlichen Berührung zu ersparen, jetzt in seinen letzten Minuten - mit wahrscheinlich gebrochenem Rückgrat - irgendwo hingetragen werden, wo er dann auf grausame Art und Weise, sozusagen Schuss um Schuss, hingerichtet werden sollte.
Ich erklärte den beiden Polizisten, dass ich bereits einen Tierarzt verständigt hätte, der bereit sei, den Fuchs einzuschläfern. Und ich fragte sie, ob sie damit nicht ausnahmsweise einverstanden sein könnten. Sie sahen sich einander an, und nickten mir schließlich zu. Sie sperrten die Straße ab und warteten gemeinsam mit uns auf den Tierarzt, der dem kleinen Fuchs, circa zwanzig Minuten später, einen sanften Übergang auf die andere Seite des Fuchshügels schenkte.


Noch ein Wort zum Schluss:
Verletzte Wildtiere, die zum "jagdbaren Wild" gehören, dürfen nicht vom Fundort entfernt werden. Dies wäre "Wilderei", da diese Tiere Eigentum des Jägers sind. Für Tierschützer unverständlich, aber gesetzlich legitimiert. Ansprechpartner für Wildtiere sind die Jagdpächter, die zuständige Jagd- bzw. Naturschutzbehörde, ansonsten die Polizei. Diese müssen unverzüglich informiert werden. Verletzte Igel und andere Wildtiere, an denen der Jagdpächter kein Interesse hat, dürfen dagegen zum Tierarzt gebracht werden. Für die Kostenübernahme gibt es keine gesetzlichen Bestimmungen. Einige Tierärzte aber übernehmen die Behandlungskosten freiwillig. Wieder genesene Wildtiere dürfen nicht behalten werden, sie gehören zurück in die Freiheit.
Rechtlich gesehen hätte sich also in der Tat ein Jäger um den Fuchs kümmern müssen. Aber in einer solchen Situation kann ich persönlich guten Gewissens vertreten, die Vorschriften nicht zu beachten.
Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, irgendwann einmal in eine ähnliche Situation geraten, denken Sie bitte immer daran, den Stress für das verletzte Wildtier möglichst gering zu halten. Schätzen Sie die Situation ab. Wenn Sie denken, dass das Tier – wenn es tierärztlich behandelt würde - irgendwann wieder ein artgerechtes Leben entsprechend seiner Natur führen könnte, dann entscheiden Sie sich dazu, es in eine Klinik oder eine Tierarztpraxis zu transportieren. Die Polizei können Sie dann immer noch von dort aus informieren.
Aber nähern Sie sich dem Tier immer ganz vorsichtig, seien Sie sich bewusst darüber, dass ein Wildtier vor Ihnen Todesangst hat. Es weiß nicht, dass Sie ihm helfen wollen. Es kann also gut sein, dass es in seiner Panik zubeißt, wenn Sie es anfassen. Wenn möglich ziehen Sie deshalb feste Handschuhe an, oder nehmen Sie eine Decke zur Hilfe.
Sollten Sie aber sofort erkennen, dass das Leben des verletzten Tieres nicht mehr gerettet werden kann, dann quälen sie es nicht unnötig, sondern sorgen Sie dafür, dass es schnellstmöglich erlöst wird.
Der Jäger aber muss immer die allerletzte Möglichkeit sein.